NEUES WOHNEN IN DER ALTEN TUCHFABRIK J.J. MÜLLER
2022 -
Ein schönes Stück Industriearchitekur des 19. und 20. Jahrhunderts
Am nördlichen Rand von Kirchheim Teck, direkt an der Lauter gelegen, entstand mit der Tuchfabrik Müller zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Stück Industriearchitektur. Geplant und gebaut wurde die Anlage von Philipp Jakob Manz, einem hoch angesehenen und bedeutenden Architekten seiner Zeit. Viele seiner Industriebauten, vor allem im süddeutschen Raum, zählen zu wichtigen Zeugnissen der deutschen Industriearchitektur in dieser Zeit.
Geschichte des Ortes bleibt ablesbar – Gebäudeensemble bleibt erhalten
Aufgrund der historischen Bedeutung, soll möglichst viel vom Bestand erhalten bleiben. Es handelt sich hierbei um den Spinnsaal an der Lauter und den übrig gebliebenen Gebäudeteil der Fabrikationshallen, die Shedahalle. Die beiden Gebäude bilden zusammen mit dem Hof ein Gebäudeensemble. Lediglich das bestehende Walmdach des Hauptgebäudes und die nachträglich angebrachte Fluchttreppe aus Stahl werden zurückgebaut. Die prägenden Wände der Shedhalle bleiben erhalten und geben die Kubatur für den Umbau vor. Der ursprüngliche industrielle Charakter und die besonderen Raumverhältnisse prägen auch weiterhin das mit neuem Leben gefüllte Areal.
Wohnen als Miteinander und Füreinander
Nach dem Ende der Produktion wurden die Gebäude von unterschiedlichen gewerblichen Mietern genutzt. Besonders bekannt war eine Tanzschule mit Veranstaltungsbereich in den oberen Etagen – über Generationen hinweg ein zentraler Treffpunkt und Ort des gesellschaftlichen Lebens in Kirchheim unter Teck. Mit dem Projekt „Wir.Haus“ möchte die OEKOGENO den historischen Ort in ein zukunftsorientiertes Wohn- und Lebensmodell überführen – geprägt von einem aktiven Miteinander und Füreinander. Das neue Wohngebäude wird mit nachhaltigen Materialien errichtet und schafft Räume, die gemeinschaftliches Leben fördern. Auch die Gestaltung der Außenflächen legt den Fokus auf Begegnung, Austausch und eine gute Integration in das bestehende Quartier. Die Bildung einer lebendigen Hausgemeinschaft wird von OEKOGENO aktiv begleitet. Dabei stehen Werte wie Mitgestaltung, generationsübergreifendes Zusammenleben, soziale Vielfalt und gegenseitige Unterstützung im Zentrum. Ein inklusives Wohnkonzept mit begleitender Betreuung ist fester Bestandteil des Raumkonzepts.Ziel ist eine selbstbestimmte Hausgenossenschaft, die auf dem Prinzip der Kostenmiete basiert – dauerhaft stabil, sozial gerecht und wirtschaftlich tragfähig.
Nachhaltige Innenentwicklung durch gezielte Verdichtung.
Direkt an der Lauter entsteht durch die Aufstockung des Spinnerei-Gebäudes um 3,5 Geschosse im Zusammenspiel mit den beiden bestehenden Hochhäusern auf der anderen Straßenseite ein städtebaulicher Akzent, der deutlich den Übergang vom Stadtrand zur Innenstadt markiert. Die Ufermauer bleibt unverändert. Das Gebäudeensemble wird wie bisher von Westen über die Paradiesstraße erschlossen. Man gelangt über einen teilweise begrünten Hof zu den Eingängen des Hauptgebäudes und der Shedhalle. Der Hof bietet Platz für Fahrradabstellmöglichkeiten und für vier PKW-Stellplätze. An diesem öffentlichen und gut einsichtigen Bereich der Anlage sind im Erdgeschoss Flächen für eine Büronutzung oder Dienstleistungen vorgesehen. In die 2 - geschossigen Wohnungen in der Shedhalle gelangt auf deren Ost- bzw. Westseite über eine jeweilige Vorfläche. Die momentanen bestehenden Nebenbauten zwischen Spinnsaal und Shedhalle werden entfernt. Dadurch wird die Atmosphäre der Lauter im Areal spürbar, und eine Durchwegung ermöglicht. Wertvoller Baugrund wird konsequent ausgenutzt, so dass an anderer Stelle versiegelte Fläche eingespart werden kann. Es entsteht eine nachhaltige Innenentwicklung durch gezielte Verdichtung.
Innere Organisation / Wohnungen
Das bisherige Treppenhaus auf der Ostseite wird durch ein zentrales Treppenhaus mit Aufzug in der Mitte des Gebäudes ersetzt. Über dieses Treppenhaus gelangt man im Erdgeschoss in die Büroeinheit und gemeinschaftliche Waschküche. In den Obergeschossen gelangt man über die Treppe auf den an der Lauter gelegenen Laubengang, der auf dem Stockwerk die jeweiligen Wohnungen erschließt. Der gemeinschaftlich genutzte Dachgarten kann über die Treppe oder den Aufzug erreicht werden. Im Hauptgebäude werden 15 Wohnungen und eine Büroeinheit realisiert. Zuschnitt und Größe der Wohnungen variieren zwischen ca. 45 - 90 m2. Ergänzt wird das Wohnangebot durch zwei sogenannte Cluster-Wohnungen, in denen jeweils drei private Schlafzimmer mit gemeinschaftlich genutzten Bereichen kombiniert werden – ideal für integrative Wohnformen oder betreutes Wohnen. Private Wohnflächen werden zugunsten gro.zügiger Gemeinschaftsbereiche auf ein ausreichendes Maß reduziert.
Im Erdgeschoss bleibt das historische gemauerte Kappengewölbe sichtbar. In der Shedhalle entstehen sechs kompakte Maisonette-Wohnungen mit einer Größe zwischen 80 und 90 m2 und ein Gemeinschaftsraum. Im Untergeschoss der Shedhalle ist für jede Wohnung ein Abstellraum und der Technikraum vorgesehen. Der barrierefreie Zugang erfolgt über das Treppenhaus des Hauptgebäudes. Als Pufferfläche zwischen Straße und Shedhalle ist die Abstellmöglichkeit für Fahrräderund Mülldepot angeordnet.
Räume für die Hausgemeinschaft
Für die Bewohner der Anlage entsteht in der Shedhalle an zentraler Stelle, dem Hof zugeordnet, ein Gemeinschaftsraum, der vielfältig genutzt werden kann. Gegenüber im Hauptgebäude befindet sich der gemeinschaftliche Waschraum. Der Dachgarten, der einen wunderbaren Blick auf die Alb und über die Stadt bietet, steht der ganzen Hausgemeinschaft gut erreichbar über das Treppenhaus und Aufzug zur Verfügung. An diesen Orten, aber auch auf den Erschließungsflächen und auch dem Spielhof, bieten sich ungezwungene Möglichkeiten zu Austausch und Gemeinschaft. Es kann so ein gutes Miteinander entstehen.
Zukunftsorientiertes Mobilitätskonzept
Es entstehen 4 PKW-Stellplätze für das gemeinschaftlich organisierte Car-Sharing und ca. 40 überdachte Fahrradstellplätze. Die LBO bietet in § 35 (1) und § 37 (3) bei Aufstockungen und Umnutzungen die Möglichkeit des Verzichts auf notwendige Stellplätze an. Diese Erleichterungen werden in Anspruch genommen, damit die Shedhalle erhalten werden kann.
Ein zukunftsorientiertes Mobilitätskonzept ist zentraler Bestandteil des Projekts. Im Fokus stehen Bewohner:innen, die bevorzugt das Fahrrad, den öffentlichen Nahverkehr und Car-Sharing nutzen und bewusst auf ein eigenes Auto verzichten. Eine Bushaltestelle befindet sich in unmittelbarer Nähe, zudem führen gut ausgebaute Rad- und Fußwege direkt an der Alten Tuchfabrik vorbei – Richtung Innenstadt und Bahnhof. Die Genossenschaft plant ein eigenes Car-Sharing-Angebot mit bis zu vier Fahrzeugen unterschiedlicher Klassen sowie Sharing-Lastenrädern. Durch die direkte Einbindung in die Genossenschaft wird die verlässliche Bereitstellung gewährleistet. Überdachte Fahrradstellplätze stehen allen Bewohner:innen zur Verfügung. Ergänzend werden solidarische Mobilitätsansätze wie Fahrgemeinschaften oder ein Hol- und Bringdienst innerhalb der Hausgemeinschaft gefördert – als Ausdruck gelebter Nachbarschaft und nachhaltiger Alltagsgestaltung
Nachhaltige Planung
Der Erhalt des Großteils der Gebäudesubstanz des Spinnereisaals spart Ressourcen und der darin gespeicherten Energie. Die Aufstockung erfolgt in Holz – einem nachwachsenden Baustoff, der zudem eine große Menge an CO2 in seiner Konstruktion speichert. Die Tragkonstruktion, Außendämmung und Außenverkleidung der Aufstockung werden in Holz ausgeführt. Durch die auskragenden Umgänge können einfache Holzfenster verwendet werden. Die Fassade wird baulich geschützt. Nachhaltigkeit bedeutet auch eine flexible Nutzung des Gebäudes. Diese ist dadurch gegeben, dass die tragenden Wände auf ein Minimum reduziert werden. Lediglich die Außenwände und die Mittelachse wird tragend ausgebildet. Im Zusammenspiel mit dem durchgehenden Umgang, der zugleich auf Seite der Lauter die Erschließung darstellt, lassen sich so die Wohnungszuschnitte sehr flexibel gestalten und auch später noch einfach ändern. Die Umgänge mit der Möglichkeit der Begrünung schaffen im Sommer eine konstruktive Verschattung des Gebäudes und bieten einen hohen Wohnkomfort und erleichtern den sommerlichen Wärmeschutz.
Die wichtigsten historischen Wände der Shedhalle bleiben erhalten. Andere Bereiche werden in nachhaltigem Mauerwerk und Holzbauweise erneuert. Das Bestandsdach der Halle muss erneuert werden, da es die zukünftigen Lasten durch Dämmung und Photovoltaikanlagen nicht aufnehmen kann. Zudem lässt sich so eine Höhe realisieren, die es ermöglicht im Dachgeschoss Wohnräume anzuordnen. Eine Trapezblechfassade aus rotbraunem Aluminium schützt das Gebäude. Eine einfache Anpassung und Rückbaubarkeit wird durch lösbare Verbindungen und klare Trennung der verschiedenen Bauteile und Schichten ermöglicht. Bei Bedarf lassen sich die Materialien sortenrein rückbauen und so einfach in den Materialkreislauf zurückführen. Im Bereich der Erschließung wird Recyclingbeton verwendet.
Lüftungskonzept
Feuchtigkeit, die über längere Zeit nicht aus dem Innenraum abgeführt wird, kann zu Schäden am Bauwerk führen. Generell können deshalb alle Räume durch das Öffnen von Fenstern ausreichend gelüftet werden. Innerhalb der Wohnung ist eine Querlüftung von Süd nach Nord möglich. In vielen Zimmer ist zudem durch die Anordnung der Fenster über Eck eine Querlüftung möglich. Die Verantwortung für das richtige Lüften soll aber nicht alleinig dem Nutzer übertragen werden. Die Lüftung muss auch unabhängig vom Nutzer gewährleistet sein. Der Mindestluftwechsel wird über Fensterfalzlüfter erreicht. Um eine Nachströmung über diese Öffnungen zu generieren, wird ein leichter Unterdruck über die Abluftventilatoren in den Bädern erzeugt. Die Steuerung erfolgt über Feuchtesensoren, die solange ein Signal an die Ventilatoren geben, bis ein unbedenklicher Wert unter 60% relativer Luftfeuchtigkeit erreicht ist. Eine gängige Steuerung über den Lichtschalter ist zusätzlich gegeben. Im Sommer können die Wohnungen quergelüftet werden über Kippfenster über den Eingangstüren. So ist eine effiziente Nachtauskühlung möglich – und tagsüber kann, die durch die Betonbauteile abgekühlte Luft, in die Wohnungen geleitet werden.
Energiekonzept
Das Gebäude erfüllt mit dem Energiestandard GEG 55 die aktuellen ausreichenden Anforderungen an Wärmeschutz und Primärenergiebedarf. Für die Wohnungen der Aufstockung wird zudem eine Ausführung im KfW40-Standard geprüft, was einer noch nachhaltigeren und energieeffizienten Bauweise entspricht. Die Wärmeerzeugung erfolgt durch Luft-Wasser- Wärmepumpen, die unter der Shedhalle aufgestellt werden, um die Nachbarn und Bewohner vor Schallimmissionen zu schützen. Alternativ wird geprüft, Umweltenergie aus dem Mühlbach, der unter der Shedhalle verläuft, zur Wärmegewinnung zu nutzen. Die Flächenheizung über den Fußböden lässt eine flexible Möblierung der Räume zu und ist robust, da vor Zerstörung und Fehlbedienung geschützt. Die große PV-Anlage auf den Dächern in Verbindung mit Batteriespeichern im Technikraum unterstützt die Beheizung und Warmwasserbereitung.
Regenwassermanagement / Mikroklima
Regenwasser wird in einer Zisterne zentral gesammelt und kann zur Bewässerung der Fassadenbegrünung oder Garten genutzt werden. Begrünte Flachdächer mit Substratauflage helfen zur Starkregenpufferung und schaffen in Verbindung mit partiellen Fassadenbegrünungen und möglichst vielen Bäumen und Sträuchern durch die Verdunstung und Verschattung ein angenehmes Mikroklima.